Jahrestag
Ruhe kommt mir entgegen, als ich auf den Höhleneingang zugehe.
Das gedämpfte Licht tut meinen Augen gut und ich steige langsam die Treppe hinab. Bestimmt wird mein Kummervogel schlafen, mit seinem Kopf unter den Flügeln und so bemühe ich mich, besonders leise zu sein.
Aber als meine Augen sich an das Licht gewöhnt haben, bemerke ich den Vogel auf seinem gewohnten Felsen und seine Augen schauen mich freundlich an. „Wie sehr freue ich mich, dass du den Weg hierher gefunden hast“, sagt er und fliegt sofort auf meine Schulter.
„Ich kann wieder einmal nicht schlafen“, sage ich traurig und außerdem ist heute ein besonderer Jahrestag, den ich am liebsten vergessen möchte“. Ich setze mich auf einen Felsvorsprung und der Kummervogel läßt sich wie gewohnt auf meinen Knien nieder. „Jetzt komme ich schon seit einem Jahr hierher, seit einem Jahr befinde ich mich hinter der Zeit und ich habe solche Angst, ich finde nie mehr zurück“, sage ich und ich merke wie mir schon wieder die Tränen in die Augen schießen wollen.
„Weine ruhig, wenn du willst, lasse deinen Kummer heraus, du hast jedes Recht traurig zu sein“, tröstet mich der Vogel und zärtlich reibt er seinen weichen wunderschönen Kopf an meinen Händen.
„Ich bin aber nicht nur traurig, ich habe soviel Zorn in mir, soviel Wut über die Gewalt die mir diese Krankheit antut. Ich bin wütend über das Gift, das ich brauche um gegen diesen Feind zu kämpfen, dieses Gift, das meinen Körper zerstört“, sage ich verzweifelt. Meine Hände verkrampfen sich zu Fäusten und wieder habe ich das Gefühl ich möchte irgend Etwas tun, damit dieser Zorn verschwindet.
„Es ist dein Recht wütend zu sein, du darfst es nicht immer verhindern, dass diese Wut aus dir herausbricht. Tue es nicht, laß sie frei“, erwidert der Vogel ernsthaft. Er springt wieder auf meine Schulter und legt liebevoll seinen Kopf an meine Wange. Diese liebvolle Berührung tut mir gut und ich fühle, wie sich mein Innerstes langsam beruhigt.
„Weißt du“, sage ich „es gibt Ärzte und Menschen, die mir dauernd sagen, das ist jetzt eben einfach so. Es läßt sich im Augenblick nicht ändern, ich soll es akzeptieren“. Ich merke wie die Wut in mir wieder hochsteigt, „dabei weiß ich das ja selber. Das ist es nicht, worum es geht. Scheinbar kann aber niemand verstehen, wie sehr ich darunter leide, wie mich diese Gewalt verletzt, der ich nicht ausweichen kann“. Meine Stimme versinkt wieder in einem Tränenstrom, den ich nicht zurück halten kann.
Der Vogel legt seinen Kopf zu Seite, er scheint zu überlegen, dann sagt er entschlossen, „komm laß uns gemeinsam zum Band der Zeit gehen, wir wollen uns dieses Jahr noch einmal ansehen. Hab keine Angst, ich bin ja bei dir“. Zögernd stehe ich auf, „ich weiß nicht, ob das gut sein wird“, sage ich zweifelnd und mit leiser Stimme.
Wir gehen zusammen in den Bereich der Höhle, wo sich das Band der Zeit befindet. Das ganze Jahr habe ich es vermieden dorthin zu gehen, weil ich mir die schrecklichen Tage und Monate nicht noch einmal ansehen wollte.
„Komm laß uns ein paar Kerzen anzünden“, sagt der Kummervogel zu mir. Erschrocken reiße ich meine Augen auf, „Kerzen für diesen schrecklichen Jahrestag?“ frage ich entsetzt. „Kerzen der Hoffnung und Kerzen des Mutes werden wir entzünden und du wirst sehen mit dem warmen Kerzenschein sieht alles gleich heller aus“, sagt mein Vogel. Und tatsächlich entzünde ich ein paar Kerzen, sie erleuchten die Höhle und geben ein wenig Wärme. Da ziehen sie vorbei die Tage und Monate meines Lebens, langsam und gleichmäßig bewegt sich das Band der Zeit an mir vorbei. Zärtlich schaue ich auf die wunderschöne Zeit meines Lebens und nachdenklich betrachte ich die schlimmen Jahre meines Lebens.
Jetzt nähert sich das letzte Jahr und ich kann alles genau erkennen, den Schmerz, die Angst, die Verzweiflung die Hoffnung und die Hoffnungslosigkeit. Schnell schlage ich meine Hände vor die Augen, „ich will es nicht sehen, ich kann es nicht ertragen“, sage ich verzweifelt und breche in Tränen aus, „laß uns fort gehen, ich will es nicht sehen“.
Der Vogel bleibt ruhig auf meiner Schulter sitzen, er läßt mich weinen, nur sein Kopf bleibt an meine Wange gelehnt. „Versuche deine Augen noch einmal zu öffnen“, sagt er leise, „schau doch noch einmal genau hin. Siehst du nicht auch die neuen Dinge die du gelernt hast, die neuen Erkenntnisse und die Menschen die dir begegnet sind? Durch deine Krankheit bist du andere Wege gegangen, verschlungene versteckte Pfade, die sich nur für dich geöffnet haben“.
Vorsichtig öffne ich meine Augen und schaue noch einmal auf das Band der Zeit. Der Zorn in mir hat mich diese Dinge nicht sehen lassen. Beschämt senke ich meine Augen und ich streichle dem Kummervogel zärtlich über sein weiches Gefieder. „Du hast ja recht“, sage ich, aber noch immer ist Zweifel in meiner Stimme.
Zweifelnd schaue ich auf die noch leeren Stellen des Bandes. „Was wird geschehen in den folgenden Tagen und Monaten?“ frage ich voller Angst, „wird es so weiter gehen wie im letzten Jahr?“
Der Kummervogel wandert auf meiner Schulter entlang, so dass er mir in die Augen sehen kann, „das kann niemand wissen“ sagt er, „aber du hast allen Grund, voller Hoffnung auf die noch vor dir liegende Zeit zu schauen. Die schrecklichen Tage hast du hinter dich gebracht und du hast so viel gelernt in dieser Zeit. Mit den neuen Erkenntnissen wirst du diese kommenden Tage und Monate meistern. Die Menschen, die du in diesem schlimmen Abschnitt deines Lebens nicht mehr sehen kannst, denen solltest du nicht nachtrauern. Sie waren nur Begegnungen und sie waren nicht fähig dir auf deinem neuen Weg zu folgen“.
Jetzt zieht ein Lächeln über mein Gesicht, „wie gut ist es, dass es dich gibt“, sage ich getröstet. Mein Blick fällt auf die flackernden Kerzen. Ihr warmer Schein läßt die Wände der Höhle zu bewegten Bildern werden. Lichter der Hoffnung werde ich sie nennen und in mein Herz zieht ein wenig Zuversicht und Versöhnung ein. Meine Augen fallen auf meinen Kummervogel und ich lächle ihm zu, „komm laß uns zurück gehen, du hattest ganz recht, mit mir hierher zu gehen“.
Wir verlassen diesen Bereich der Höhle und ich setze den Vogel wieder auf seinen gewohnten Felsvorsprung. „Ich werde jetzt nach Hause gehen“, sage ich zu dem Vogel, „du hast Recht, die Tage liegen hinter mir und vor mir sind die unberührten Tage der Zukunft“. Ich fühle die Hoffnung in mir, die mein Herz beruhigter schlagen läßt.
Wie immer spricht der Vogel nicht mehr, wenn ich fort gehe, aber ich spüre seine Gedanken, wenn ich die Höhle verlasse und er mir nachsieht.