Resignation
Ganz langsam mit vorsichtigen Schritten gehe ich die Stufen zu der Höhle hinab. Ein warmer Luftzug kommt mir vom Höhleneingang entgegen. „Wie lange bin ich schon nicht mehr hier gewesen?“ überlege ich. Als ich den Höhleneingang betrete, schaut mir sofort mein Kummervogel entgegen. Er sitzt dieses Mal auf einem großen Felsblock, direkt hinter dem Eingang. Mit ernsten Augen schaut er mich an, „ich habe so sehr gehofft, dass nicht du es bist die heute hier erscheint“, sagt er traurig.
Langsam gehe ich auf ihn zu und senke beschämt den Kopf, „ja ich weiß, dass ich dich vernachlässigt habe, ich war so schrecklich lange nicht mehr hier bei dir“. Ich gehe zu ihm und streichle über sein buntes seidenweiches Gefieder. „Es tut mir auch leid, aber ich konnte nicht kommen, ich verlasse meine Insel kaum noch“, sage ich leise.
Der Kummervogel schaut mich mit seinen blanken Augen an, „ich bin dir nicht böse deswegen, ich weiß um deinen schweren Kampf, den du zu bestehen hast. „ Ich bin nur ein wenig traurig darüber, dass du nicht mehr mit mir reden kannst“. Er springt auf meine Schulter, so wie er das immer getan hat, sein weicher Kopf streicht über meine Wange und ich fühle, dass es mir gut tut wieder einmal hier zu sein.
Ich setze mich auf den großen Felsblock und sofort springt der Vogel auf meinen Schoß. „Warum sagst du, dass du gehofft hast, dass ich nicht heute komme?“ frage ich ihn.
„Schau einmal dort hinten in die Ecke der Höhle“, sagt der Kummervogel, „dort sitzt er und er kommt nur hierher, wenn er sicher ist, das er jemanden in sein Land mitnehmen kann“. Der Vogel schaut mit ernsten Augen hinter mich, in die Richtung einer dunklen Ecke der Höhle, die man vom Eingang aus nicht sehen kann.
Ich folge seinen Blicken und ich sehe einen großen dunkelgrauen Vogel, der mit seinen starren Augen zu mir herüber blickt. „Wer ist das?“ frage ich erstaunt, „und auf wen wartet er denn“?
„Das ist der große graue Vogel der Resignation und ich glaube, dass er dich hier erwartet hat“, antwortet mein Kummervogel traurig.
„Er nimmt Menschen, die aufgeben wollen mit in das Land des grauen Nebels und Vergessens. Er trägt sie mit seinen riesigen Schwingen dorthin. Ich möchte nicht, dass er dich mit dorthin nimmt, denn ich habe noch Keinen den er fortgetragen hat, zurück kehren sehen“.
Eindringlich schaut der Kummervogel mich an, „ich möchte das nicht, verstehst du?“
Ich erhebe mich von dem Felsblock und sofort springt der Kummervogel wieder auf meine Schulter, ich spüre seine Füße, die sich durch meine Jacke in meine Schulter eingraben. Langsam gehe ich auf den großen grauen Vogel zu, er schaut mir entgegen, aber in seinen dunklen Augen ist kein Leben zu sehen. Starr und leer schauen sie mich an. Vorsichtig berühre ich das Gefieder dieses Vogels, doch erschrocken ziehe ich meine Hand zurück, so als ob ich mich verbrannt hätte. Seine Federn fühlen sich eiskalt an, leblos und ohne jede Wärme. „Du bist also die Resignation“, sage ich leise in die Richtung zu dem grauen Vogel, „und du wartest hier schon auf mich?“ spreche ich traurig weiter. Langsam spüre ich, wie mir die Tränen in die Augen steigen, ich kann sie nicht mehr aufhalten und wie eine Erlösung rollen sie meine Wangen herab. Der Tränenstrom wird eine Tränenflut und all der Kummer der letzten Zeit scheint aus mir heraus zu fließen.
Der Kummervogel schmiegt seinen Kopf an meine Wange und leise sagt er in mein Ohr: „Weine ruhig, lass den Schmerz deinen Körper verlassen, niemand wird dich mitnehmen, wenn du es nicht willst“.
Ich berühre sein seidiges Gefieder und ich weiß sofort, dass ich niemals wieder die eisigen Federn der Resignation berühren möchte. Langsam versiegt der Tränenstrom und ich bekomme ein zaghaftes Lächeln auf meine Lippen. „Sage ihm, dass er fortfliegen soll, das kannst nur du“, sagt der Kummervogel leise in mein Ohr, „sonst wird er hier auf dich warten, denn er fliegt nicht gerne unverrichteter Dinge zurück“.
Ich drehe mich noch einmal zu dem großen grauen Vogel herum, „fliege bitte fort in das Land voller Nebel. Ich werde nicht mit dir kommen, ich werde weiter kämpfen. Und irgendwann, dass weiß ich genau, werde ich der Sieger sein, werde ich wieder lachen können so wie früher“. Ich schaue den Vogel der Resignation an und seine starren Augen erwidern meinen Blick. Ob er mich überhaupt verstanden hat?
Plötzlich breitet er seine großen Schwingen aus und erhebt sich in die Luft. Ein dunkler Schatten zieht durch die Höhle als er über mich hinweg fliegt. Jedoch als er mit weiten Flügelschlägen den Ort verläßt wird es auf einmal viel heller dort, man konnte glauben, dass ein Sonnenstrahl in die Höhle fällt.
„Ich muss jetzt wieder gehen“, sagte ich zu dem Kummervogel, „ich muss weiter kämpfen, es ist noch nicht zu Ende“. Der Vogel verläßt meine Schulter und setzt sich auf seinen gewohnten Felsen, „Ich weiß das und ich denke sehr oft an dich. Hast du eigentlich meine Feder noch, die ich dir gegeben habe?“ fragt er und legt seinen wunderschönen Kopf zur Seite.
Ich muss lächeln über diese Frage, „natürlich habe ich deine Feder noch. Ich trage sie immer bei mir, egal wohin ich auch gehe. So kann ich auch niemals vergessen, ab und zu einmal bei dir vorbei zu kommen“.
Meine Schritte bewegen sich auf den Höhlenausgang zu. Dort drehe ich mich noch einmal herum, „wünsche mir Glück und Kraft, dann kann ich bald wieder hier herkommen“, sage ich.
Der Kummervogel antwortet nicht mehr, aber er sieht mir nach mit seinen glänzenden Augen. Er wünscht mir Glück, das weiß ich.