Die verborgene Insel
Ganz vorsichtig und behutsam strecke ich meinen Kopf in den Höhleneingang hinein. Eigentlich habe ich ein wenig ein schlechtes Gewissen, dass ich den Kummervogel so lange nicht besucht habe. Dabei hatte er mir ausdrücklich gesagt, dass ich jederzeit vorbei kommen könnte, wenn ich traurig bin.
Wie immer sehe ich ihn auf seinem gewohnten Felsvorsprung sitzen, er ist so wunderschön und bunt, genau so wie ich ihn in Erinnerung habe. Ich glaube er hat mich schon gesehen, denn seine Augen sind geöffnet und er schaut in meine Richtung. Ganz langsam gehe ich auf ihn zu und ich setze mich wie immer ganz in seine Nähe.
Sofort springt er mir auf die Schulter, „wie geht es dir?“ fragt er, „du warst ja so lange nicht hier in dieser Höhle“. Schuldbewusst senke ich meine Augen, „ich weiß, sicher hast du auf mich gewartet, aber ich konnte nicht kommen, ich konnte mit niemandem sprechen, auch nicht mit dir“, sage ich leise. Die Augen des Vogels blicken traurig auf mich, „so schlimm war dein Kampf, dass er dich stumm gemacht?“ krächzt er und er springt wieder auf meinen Schoss. „Aber jetzt bist du hier, also geht es dir jetzt wieder besser?“ fragt er.
Ich streichele ihm über seinen bunten Kopf, wie sehr liebe ich doch sein glänzendes Gefieder. „Mein Kampf ist noch nicht zu Ende“, antworte ich ihm, aber es geht mir besser, viel besser“, lächele ich ihm zu. „Weißt du“, sprach ich weiter, „ich habe nach einem Weg gesucht, wie ich diesen Kampf gewinnen kann. Mein Feind hat seine Waffen noch nicht gestreckt, er liegt auf der Lauer, aber er hat an Kraft verloren“.
Der Vogel schaut mich mit seinen glänzenden Augen an, „du wirkst verändert, magst du mir erzählen, warum das so ist?“, fragt er. Ich lehne mich zurück und meine Hände streicheln weiter über seine weichen Federn. „Verändert findest du?“ frage ich leise, „das mag so sein, aber nur du scheinst es zu sehen mit deinen klaren durchdringenden Vogelaugen“.
Der Vogel legt seinen Kopf schräg und sieht mich eindringlich an. „Dein Mund lacht, aber dein Herz lacht nicht mit“, sagt er, „und das ist die Veränderung. Was ist geschehen mit dir? Magst du es mir nicht erzählen?“ Ich lächle ihm zaghaft zu, „natürlich werde ich es dir erzählen, darum bin ja ich hergekommen, zu dir, zum Band der Zeit und zu den Dingen die mir wichtig sind“. Ich setze mich ganz entspannt hin und ich lasse die Ruhe und die behagliche Wärme der Höhle auf mich einwirken.
„Weißt du lieber Vogel“, beginne ich meine Geschichte, „ich habe da einen ganz versteckten See. Dort bin ich sehr oft, weil ich diesen See sehr liebe. Er gibt mir Ruhe und Frieden, dort können ich meine Träume und meine Sehnsüchte frei herumlaufen, weil ich mich dort absolut geborgen fühle.
Als es mir nun vor einiger Zeit ganz schlecht ging, habe ich oft dort an seinem Ufer gesessen und meinen Tränen freien Lauf gelassen“. Meine Augen suchen die des Vogels und ich bemerke, dass er mir wie immer aufmerksam zuhört. So erzähle ich einfach weiter. „Eines Tages bemerkte ich, versteckt hinter einem Busch, nicht weit vom Ufer entfernt, ein Boot. Es schien niemandem zu gehören, denn es sah so aus, als ob es Ewigkeiten nicht mehr benutzt worden ist. Ich beschloss einfach, ein wenig auf den See hinaus zu rudern, es war so ein wunderschöner Tag und das Wasser glitzerte einladend in der Sonne. Langsam und fast lautlos glitt das Boot über das Wasser und das Ufer von dem aus ich losgefahren war, entfernte sich immer mehr. Nach einer Weile tauchte eine kleine winzige Insel vor mir auf, die natürlich sofort meine Neugier weckte. Ich zog das Boot auf den Strand zog meine Schuhe aus und begann mit staunenden Augen die Insel zu erforschen. Wie wunderschön es hier war und wie ruhig.
Wenn ich zurück schaute, konnte ich das Ufer des Sees nicht mehr sehen. Er war also größer, als ich es je geahnt hatte“. Meine Augen schauen wieder auf den Vogel, der mir ganz aufmerksam zuhört. Da er nichts sagen wollte, setze ich meine Geschichte fort.
„Die Insel gefiel mir sehr gut, es war kein Mensch weit und breit zu sehen und ganz sicher war sie unbewohnt. Es herrschte absoluter Frieden hier. Ich legte mich lang ausgesteckt auf den Rücken, um die Wolken zu beobachten, die wie große Berge von weicher Watte über den Himmel zogen. Als es dunkel wurde, beschloss ich einfach auf der Insel zu bleiben und nicht wieder zum Ufer zurück zu rudern. So reihte sich ein Tag an den anderen und ich lebte mich auf der verborgenen Insel ein. Hier war nichts was mir weh tat, was mich an meinen Kummer erinnerte“.
Der Vogel schaut mir direkt in meine Augen, „wie lange lebst du jetzt schon dort auf deiner Insel?“ fragt er. Ich überlege eine Weile, „wenn ich jetzt so darüber nachdenke, kann ich es dir gar nicht sagen. Weil es dort keine Zeit gibt, die Zeit verschwindet mit dem Ufer des Sees“, antworte ich. Der Vogel schaut mich ernst an, „willst du denn jemals von dieser Insel zurück kehren? Irgendwann wird das alleine sein doch zu schwer für dich werden“, sagt er besorgt.
Traurig schlage ich meine Augen nieder, „ich war schon immer so alleine, auch unter vielen Menschen, weil es fast niemanden gibt, der mich so versteht wie ich bin. Aber auf der Insel kann ich einfach „ich“ sein, ohne Einschränkung, glaube mir, das ist besser für mich. Außerdem habe ich ja das Boot und ich kann jederzeit zum Ufer zurückkehren, wenn ich es mag. Ab und zu muss ich ja zum Ufer rudern, weil ich meine Medizin holen muss und jedes Mal, wenn ich sehe welche große Menge ich bekomme, schlägt die Tür zur Wirklichkeit mit einer Sturmböe auf. Wie ein Blitz trifft es mich dann und ich renne zu meinem Boot zurück um zu meiner Insel zurück zu rudern, damit mich der Sturm nicht erfasst und zu Boden reißt“. Jetzt strengt es mich an, was ich erzähle, ich bemerke es, denn mein Herz beginnt angstvoll zu klopfen.
Der Vogel springt auf meine Schulter und schmiegt seinen Kopf an mein Gesicht, „du hast dir einen Platz gesucht, wo du aushalten kannst, was du erlebst, ich verstehe das schon,“ sagt er, nur darfst du die Zeit zum zurückkehren nicht vergessen“. Ich schaue den Vogel sehr ernst an, „ich weiß gar nicht, ob ich jemals zurück kommen will. Fast alle Menschen sehen doch nur die Oberfläche, es merkt doch gar keiner dass ich nicht mehr da bin, was soll ich dann noch hier?“ sage ich traurig.
„Jetzt will ich dir aber einmal etwas sagen“, kommt die Antwort vom Kummervogel, „wenn du ein schönes Haus siehst, überzeugst du dich dann jedes Mal, ob das Innere der Fassade stand hält?“ beschämt senke ich meinen Kopf, „nein, du hast Recht, das tue ich auch nicht. Man darf ja auch nicht in jedes Haus hinein“, sage ich nun lachend. „und das ist ja auch gut so“.
Jetzt richte ich mich auf und mein Herz hat aufgehört aufgeregt zu klopfen, „weißt du, ich rudere oft zur anderen Seite des Sees, dort gibt es fremde Menschen, die mich überhaupt nicht kennen. dort kann ich ein wenig Freude verbreiten und das ist wunderschön für mich. Jeder Mensch kämpft eben auf seine Weise. Ich führe einen stillen Kampf und das bedeutet nicht, dass ich mich geschlagen gebe“, lächle ich dem Vogel zu, „außerdem gibt es ja einen Menschen der mich auf meiner Insel besuchen darf, dem meine ganze Liebe gehört. Er darf mich so sehen wie ich bin und er kennt mein Herz. Das ist mehr, als die meisten Menschen es haben“.
Der Vogel springt wieder auf meinen Schoss er schaut mich eindringlich an, “und hier hast du einen Platz zu dem du immer kommen kannst bei deinen Ausflügen ans Ufer. Hier kannst du auch ganz „du“ sein, ich werde auch immer verstehen was du sagst oder tust, bitte vergesse das nicht. Versprichst du mir das?“ fragt er ernst.
Liebevoll streichle ich noch einmal über sein buntes Gefieder, „ich werde wieder kommen, ich verspreche es dir. Jetzt muss ich aber gehen, denn in der Dunkelheit kann ich vielleicht meine Insel nicht finden. Leb wohl, ich werde oft an dich denken. Vielleicht kannst du mich ja einmal auf meiner Insel besuchen kommen, du kannst sie gar nicht verfehlen, es gibt nur die eine in diesem See“.
Ich wende mich dem Höhlenausgang zu um zu gehen. „Ganz bestimmt komme ich dich besuchen“, ruft mir der Vogel hinterher. Wie immer spüre ich seine Blicke die mir nachsehen.