Zuflucht
„Ich werde nicht mehr zurück gehen, hörst du mich, ich bin müde vom Kämpfen, einfach müde“.
Der Vogel kommt schnell auf meine Schulter geflogen und reibt seinen Kopf an meiner Schläfe. “Du willst also jetzt für immer hier bleiben? Hier in dieser Höhle? Hast du dir das auch gut überlegt?“ Er schaut mich mit seinen klaren Augen fragend an. „Glaubst du nicht, du wirst die Welt draußen mit all den Menschen irgendwann vermissen?“
Ich setze mich auf einen felsigen Platz und der Vogel fliegt sofort auf meinen Schoß, damit er mich besser ansehen kann. „Du hast viel geweint, nicht wahr? Man sieht es an deinen Augen. Konnten die ganzen Tränen denn den Schmerz nicht fortspülen?“ fragt er traurig.
Ich schaue ihn an und frage, „gibt es hier in dieser Höhle keine Felsenkammer, in der ich wohnen kann und wo mich niemand mehr findet?“ Mein Kopf senkt sich, weil diese traurige Frage mir selber weh tut. „Natürlich gibt es hier Kammern und Höhlen, in denen du dich verstecken könntest. Tiere machen so was, wenn sie schwer krank sind und sterben wollen“. Der Vogel lässt mich nicht aus den Augen, „so wie du heute klingst, hört es sich nach aufgeben an. Da ist kein Mut mehr in deinen Augen, keine Entschlossenheit. Willst du wirklich nicht mehr weiter kämpfen, einfach deine Waffen strecken?“ Er streicht mir liebevoll mit seinem Schnabel über meine Hände, die Hände die ich kraftlos auf meinem Schoß liegen habe.
Müde schaue ich ihn an, „ich kämpfe doch die ganze Zeit, aber gegen einen Gegner zu kämpfen, der so unfair ist, der ständig sein Aussehen ändert, wo soll ich denn die Kraft noch hernehmen? Wenn ich einen Schritt vorwärts schaffe, dann schiebt er mich gewaltsam zwei Schritte zurück. Und da fragst du mich ob ich meine Waffen strecken will?“ Schon wieder steigen mir die Tränen in die Augen mein Blick verschwimmt und die bunten Farben meines Kummervogels verlaufen ineinander. „Ich mag einfach nicht mehr, verstehst du das nicht? Ich wünsche mir nur ein wenig Sonne und Hoffnung in meinem Leben“. Jetzt kann ich meine Tränen nicht mehr einhalten, wie ein Strom laufen sie über meine Wangen.
Der Vogel fliegt auf meine Schulter und sagt zu mir: „Weißt du was, wir machen jetzt eine Reise, eine Reise mit den Gedanken“. Ich fühle wieder seine Füße auf meiner Schulter und bin neugierig, was er jetzt vorhat.
„kannst du mal deine Augen schließen“, fragt er, “und dir etwas ganz wunderschönes vorstellen? Etwas was du dir schon lange wünscht, fällt dir da etwas ein?“ Er blickt mich aus seinen klaren Augen an, während er seinen schön geformten Kopf zur Seite legt. „Hast du etwas im Sinn?“ fragt er weiter, „etwas was dir ganz ganz wichtig ist?“ Natürlich habe ich etwas im Sinn, einen großen Herzenswunsch, das sage ich ihm natürlich.
„Gut“, sagt der Vogel, nun stelle dir einmal vor, das was du dir von ganzem Herzen wünscht, ist sichtbar für dich und gar nicht so weit entfernt. Aber du musst erst einen sehr gefährlichen Weg gehen, um dein Ziel zu erreichen“.
Er schaut mich an, „öffne jetzt deine Augen und sage mir, was würdest du tun? Weitergehen? Deinen Herzenswunsch einfach liegen lassen? Weil du Angst hast vor dem Weg? Sag mir, was würdest du machen?“ Seine Augen blicken freundlich und erwartungsvoll auf mich.
In meinen Gedanken entsteht der Wunsch dieses Ziel zu erreichen, die Gedanken wandern in mein Herz und ich verstehe was er meint, mein Kummervogel. „Ich würde jeden Weg gehen, um diesen Herzenswunsch erfüllt zu bekommen“, antworte ich, „und ich verstehe den Sinn deiner Frage. Man darf sein Ziel nicht aus den Augen verlieren, sonst wird man schwach und kann den schwierigen Weg nicht mehr schaffen. Ich bin froh, dass es dich gibt“, sage ich und streichle sein wunderschönes Gefieder“.
„Ich werde jetzt gehen“, sag ich, morgen ist ein schwerer Tag und ich werde viel Kraft brauchen“.
„Nimm deine Feder mit“, ruft er mir hinterher als ich die Höhle verlasse, „wenn dich morgen irgendwann der Mut verlässt, dann sieh sie dir an und denke an die heutige Nacht“.
Jetzt kann ich auch wieder ein wenig lächeln.