Worte
Heute kommt mir der Weg in meine Höhle so weit vor. Kalt ist es draußen, mein Atem macht weiße Nebelwolken. Ich bin so müde, aber ich kann nicht schlafen. In der Höhle ist es wie immer angenehm warm und der weiche Schein von Licht vermittelt mir die Ruhe, die ich mir wünsche.
Ich halte Ausschau nach meinem bunten Vogel, aber ich kann ihn nirgendwo entdecken, der Felsvorsprung auf dem er immer sitzt ist leer. „Vielleicht kommt er ja später“, denke ich und setze mich in die Nähe dieses Vorsprungs. Mein Blick fällt auf das Band der Zeit, das wie immer gleichmäßig und langsam seine Bahnen zieht. Eine unabänderliche Tatsache ist sie, diese Zeit, niemand kann sie beeinflussen, eine Art von Gerechtigkeit.
Da fällt mein Blick auf eine wunderschöne bunte Feder, bestimmt hat mein Vogel sie verloren, oder hat er mir einen Gruß hier gelassen, weil er selber heute nicht hier sein kann? Ich nehme diese Feder in meine Hände und betrachte sie genauer, ein Wunderwerk der Natur ist solch eine Feder.
Früher haben Menschen mit solchen Federn Worte aufgeschrieben, Worte die sie mitteilen wollten. „Ob die Worte damals anders waren als heute?“ überlege ich, „sanfter, vorsichtiger oder federleichter? Ob Menschen sich darüber klar sind, welche Macht sie mit Worten ausüben können?“
Worte können soviel bewirken, sie können eine Seele mit glücklichen Schwingen bis hinauf in den Himmel tragen, aber sie können auch wie ein scharfer Stich mit einem Dolch eine Seele töten. Sie können zum Lachen bringen oder zum Weinen, sie können unglaublich glücklich machen, oder in die tiefste Verzweiflung stürzen. Sie begrüßen einen Menschen, wenn er die Welt betritt und sie verabschieden ihn, wenn er sie verlässt.
Unbedachte Worte, einfach frei gelassen, haben schon soviel Tränen und Traurigkeit bewirkt. Einfach aus irgend einem Mund herausgelassen, fliegen sie durch die Gegend und treffen fast immer auf jemanden, den sie verletzen.
Worte können zärtlich und liebevoll sein, wie weiche Hände können sie die Seele streicheln, sie können Trost sein und ein Zuhause in schweren Zeiten, wenn sie ehrlich gemeint sind. Sie können aber auch wie ein Schwert den Kopf vom Rumpf abschlagen, tödlich für eine Seele und einen Menschen an den Abgrund seines Lebens bringen.
Worte können falsch und verlogen sein, sie schleichen sich ein mit einem falschen Gesicht. Sie gehen geduckt, weil sie niemand erkennen soll, wandern in sensible Seelen und vergiften sie langsam und qualvoll.
Worte voller Hass, herausgeschleudert wie scharfe Messer, mit der Absicht zu verletzen, scharfe Waffen, denen man kaum entkommen kann.
Worte an die Kinder unserer Welt, die ihnen sagen, was gut und was schlecht ist. Welche Verantwortung haben diese Worte dann, wie wichtig sind sie für das Leben dieser kleinen Menschen.
Ich lehne mich zurück und schaue noch einmal auf die wunderschöne bunte Feder, es wird mir klar, es liegt nicht an dem Schreibwerkzeug, ob Worte gut oder schlecht sind, es liegt an den Herzen, aus denen die Worte gesagt oder geschrieben werden.
Meine Gedanken wandern in mich hinein, in die Kammer meiner Worte. Dort ist es übervoll und lebendig. Eins der Worte sagt zu mir. “Warum lässt du uns nicht heraus, warum hast du die Kammer abgeschlossen? Du denkst und denkst die ganze Zeit und hier wird es immer voller. Wir wissen, dass wir dir das Herz abdrücken, schließe doch die Türe auf und lass uns gehen, so wie du es immer getan hast“. Ich schaue traurig auf all die angesammelten Worte in meinem Inneren. „Wer wird euch zuhören“, antworte ich, „wer wird den Sinn verstehen, den ich euch gegeben habe?“ Mein Herz ist schwer und ich fühle den Druck, den die Worte dort verursachen. „Lass uns doch gehen“, sagt das Wort noch einmal, „tue es doch für dich. Und wenn nur ein Mensch auf der Welt uns richtig versteht, dann waren wir nicht umsonst“.
Jetzt muss ich lächeln, „ich merke es schon, ich kann euch nicht einsperren ihr Quälgeister, ihr seid wie die ungezogenen Kinder die unbedingt draußen spielen wollen, ich werde euch gehen lassen“. Ich öffne die Türe der Kammer ganz weit und ich fühle die Erleichterung in meinem Herzen, als die Worte frei werden. „Möget ihr auf Ohren und Herzen treffen, die euch verstehen“, sage ich leise.
Es wird Zeit zurück zu gehen, denn es wird schon hell. Die Feder von meinem Kummervogel werde ich mitnehmen, eine Erinnerung an diese Nacht der Zweifel. Ich würde mir eine Nacht der Hoffnung wünschen, damit die ständige Angst in mir endlich aufhört.
Mein Atem macht immer noch Nebelwolken, es ist immer noch kalt, aber der Himmel ist etwas heller geworden, weil der neue Tag gleich anbricht.