Gevatter
Der Ort, an dem ich mich augenblicklich aus zwingenden Gründen aufhalten muss, lässt viel Raum und auch Zeit seinen Gedankengängen zu folgen. Er vermittelt viele Erkenntnisse und man lernt eine Menge über Geduld, Bescheidenheit, Hoffnung und Verzweiflung. Man lernt vieles über das Leben, was wichtig oder unwichtig ist und eben auch Dinge über den Tod.
Wer mag über den Tod schon reden oder nachdenken? Oder über Krankheiten? Wer hat die Geduld, einen Kranken, der von seiner Angst über das Ungewisse, einfach in verzweifelte Zustände gejagt wird, wieder aufzubauen? Eigentlich mag mit solchen Dingen niemand so wirklich behelligt werden, es ist einfach so.
Aber wer wird wohl mit einem Menschen der sterben muss und vielleicht noch soviel zu sagen hätte, darüber reden? Schnell dreht man sich weg, damit möchte niemand etwas zu tun haben.
Geschulte Kräfte mögen es tun, aber das ist nicht das Gleiche, als ob ein Mensch der einem vertraut ist, der einem am Herzen liegt, sich diese Dinge anhört.
In einem Krankenhaus ist der Tod allgegenwärtig. Er ist hier Tag und Nacht unterwegs, mit seinen verschiedenen Gesichtern. In fast jedem Menschen erzeugt er Angst und Schrecken, weil er oft unerwartet, grausam oder ungerecht zuschlagen muss. Er hat aber auch ein mildes und freundliches Gesicht und darüber möchte ich eine Geschichte erzählen. Natürlich werde ich wie immer, niemals den Namen der Personen nennen, von denen ich schreibe, ohne deren ausdrückliche Erlaubnis.
Da gibt es ein Paar, fast sechzig Jahre leben sie gemeinsam ihr Leben und jeder ist immer und zu jeder Zeit für den Anderen da. Freud und Leid gibt es in ihrem Leben, so wie das Leben der meisten Menschen ist. Wichtig ist ihre Liebe und ihr zusammen halten jeder Zeit.
Beide werden natürlich alt und leider auch krank. So gut sie es vermögen, helfen sie einander. Bei ihr wird die Krankheit so schlimm, dass sie nicht mehr laufen kann, auf Hilfe angewiesen ist. Solange er es schafft, versorgt er sie liebevoll, obwohl seine Krankheit es fast auch schon nicht mehr zulässt. Er fühlt, dass es nicht mehr lange gehen wird und so ruft er für seinen liebsten Menschen den Notarzt, damit sie in einem Krankenhaus versorgt werden kann.
Zwei Tage später stirbt er.
Sie liegt dort in ihrem Bett, sie weint nicht. Hilflos sieht sie aus, so zart so alt und so alleine.
Grosse Schmerzen hat sie, die nur erträglich sind, weil sie auf einer Vakuummatratze liegt, die Geräusche der Pumpe hört man Tag und Nacht. Jeder Verbandwechsel ist eine schreckliche Qual für sie und die Panik in ihren Augen ist oft kaum zu ertragen. Ich flüchte dann ans Fenster und halte mir meine Ohren zu, weil mir ihr Stöhnen im Herzen weh tut.
Oft liegt sie still in ihrem Bett und ihre Lippen bewegen sich lautlos. Ich fühle, dass sie dann mit ihrem liebsten Menschen spricht. Er hat sie nicht alleine gelassen, seine Hand liegt immer noch auf ihrem Herzen und wenn sie schläft ist er in ihren Träumen bei ihr.
Oft betritt der Tod das Zimmer und er steht freundlich lächelnd an ihrem Bett. Er fragt, ob sie nicht mitgehen möchte und ich spüre, wie sie überlegt. Ihr liebster Mensch hat ihn geschickt, weil er es nicht mit ansehen kann, wie sehr sie leiden muss. Aber da sind noch Verpflichtungen die sie halten, die einer Erledigung bedürfen, wie sie glaubt. Sie will es nicht irgendwelchen Menschen überlassen, die Angelegenheiten zu regeln, dazu ist sie zu pflichtbewusst.
Der Tod steht leise an ihrem Bett, er lässt ihr Zeit sich zu entscheiden. Gewaltsam wird er sie nicht mitnehmen. Dieses Gesicht des Todes erzeugt keine Angst oder Furcht, es zeigt, dass Liebe auch über den Tod hinaus existiert. Das Menschen die sich lieben über ihre Seelen miteinander verbunden bleiben, sich nicht alleine lassen.
Einmal stand ich an ihrem Bett, sie hatte einen verzweifelten Blick auf mich gerichtet. „Immer das Selbe“, klagte sie, „es tut so weh“. Ich habe sie fest in meine Arme genommen und ihr gesagt, sie solle doch einmal weinen, diesen unendlichen Schmerz mit Tränen fortspülen. Die schmalen Schultern begannen zu zucken und zum ersten Mal schwemmte ein riesiges Tränenmeer einen Teil von der Verzweiflung heraus.
Manchmal, wenn ich hier am Tisch sitze und schreibe, liegt sie still in ihrem Bett und beobachtet mich. Ich glaube sie weiß, dass ich sie verstehe. Ich lächle ihr zu und ein zaghaftes Lächeln huscht über die eingefallenen Züge. Wenn sie mit mir reden möchte, über das was sie denkt, werde ich ihr zuhören und ich weiß, dass ich das können werde, diesen Mut will ich aufbringen.
Ich wollte euch mit dieser Geschichte nicht traurig machen, sondern nur zum Nachdenken auffordern. Denn diese Geschichte hat auch eine Seite, die Hoffnung macht.
Sie beweist, dass es Liebe wirklich gibt. Es ist sehr einfach jemanden zu lieben, wenn die Sonne scheint, wenn alles in rosarotem Licht ist. Die Höhepunkte der Liebe erfährt man aber erst in Zeiten der Not und des Schmerzes, weil sie erst dann ihre große Kraft und ihre Stärke zeigen kann. Ich habe es mir fest versprochen, dass ich immer ich selber bleibe und so sind auch meine Geschichten. Das was ich fühle, schreibe ich.
Darum ist es jetzt auch einmal so gekommen, dass ich etwas über den Tod geschrieben habe, von dem eigentlich niemand etwas wissen will, trotzdem er zu unser aller Leben gehört.