Die blaue Blume
Ein Flüstern eilte durch die Schlucht und kündete von einem Besucher. Der Widerhall kurzer Schritte vermischte sich mit dem Plätschern der Quelle, die ihr belebendes Nass an die Natur verschenkte.
Hier auf dem Plateau des Berges Vishudda traf man selten auf Besucher oder Durchreisende, denn der Weg hinauf war sehr beschwerlich und das lose Schottergestein barg so manche Gefahren in sich.
Und doch - an jenem Tag folgten kleine Füße dem gewundenen, schmalen Pfad und erreichten den heiligen Ort.
Erschöpft setzte sich Selea, ein Mädchen vom Dorfe jenseits der Berge, an den Rand der Quelle, tauchte zaghaft ihre Hände in das frische Wasser und sprach:
"Verzeih´ mir, du Quelle allen Lebens, dass ich deine Einsamkeit störe, aber mich dürstet es so sehr und ich bitte dich um die Gabe deines Wassers."
"Wer so die Dinge achtet, dem wird reichlich gegeben werden", ertönte unerwartet eine Stimme. Das Mädchen wagte nicht den Kopf zu heben und betrachtete etwas ängstlich das undeutliche Spiegelbild eines wundersamen Vogels. "Du darfst mich ruhig anschauen und von diesem reinen Wasser trinken." "Aber die Leute im Dorf..., sie haben mir geraten den Hüter der Quelle nie direkt ins Antlitz zu sehen. Ich, ja ich würde sonst von deinen Flammenaugen verzehrt werden und zu Staub zerfallen", setzte Selea zögerlich hinzu.
"Wenn ich soviel Macht besitze, wie die Bewohner behaupten, wäre es nicht ein leichtes für mich dir schon in der Schlucht das Leben zu nehmen?"
Nachdenklich kräuselte das Mädchen die Stirn, fasste sich ein Herz und richtete sich auf. Nun erkannte sie ihn in voller Pracht, den Feuervogel, den Behüter der
Quelle. Ganz entspannt putzte er sein Gefieder, fuhr sich mit einer Zehe durch die feinen Hauptfedern und rieb sich die rechte Kopfseite an einem hervorstehenden Ast. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Mädchens, als er bei dieser Prozedur vor Vergnügen die Augen schloss und ihre Befangenheit wich der Freude.
"Aber du bist bestimmt nicht zu diesem Ort gekommen, um mir beim Säubern zuzusehen, nicht wahr? Jetzt nimm erst einmal einen Schluck von diesem wunderbaren Wasser und erzähle mir, was dich zu mir führt."
Nachdem sich Selea erfrischt hatte, berichtete sie von ihrem Onkel, den eine sonderbare Schwermut ergriffen hatte. Seit dem Tod seiner Frau und dem ältesten Sohn hatte sich sein Gemüt verfinstert. Monat für Monat zog er sich immer mehr aus dem Leben zurück und als letze Woche sein treuer Hund von einem Berglöwen gerissen wurde, verweigerte er sogar das gemeinsame Essen.
"Meine Familie und ich sind in großer Sorge. Früher sind wir zusammen auf seinem Pferd geritten und danach habe ich für ihn Maiskuchen gebacken. Und jetzt? Wie kann ich ihm nur helfen?", schluchzte das Mädchen und dicke Tränen liefen über ihre Wangen.
Ganz sanft strich der Feuervogel mit den Schwungfedern seines Flügels über ihr Gesicht, glitt hinab und legte ein kleines Samenkorn in ihre Hände.
"Dies ist ein Geschenk für deinen Onkel. Nur wenn er bereit ist für dieses Samenkorn die Verantwortung zu übernehmen und es zu lieben und zu behüten, dann wird sein Kummer schwinden."
Voller Hoffnung eilte Selea zurück zu ihrem Dorf.
"Onkel, mein lieber Onkel Sergyl, ich habe ein Geschenk für dich. Schau doch nur,
dieses Korn wird dir deine Sorgen nehmen. Der Feuervogel gab es mir für dich mit und ich habe es schon in die Tonschale gepflanzt und angegossen und wer weiß, welche heilende Pflanze daraus erwächst?"
Verwundert und leicht brummend nahm er das Gefäß mit dem Samen, der seiner Nichte so wichtig schien, entgegen und stellte es ans Fenster. Pflanzen, damit hatte er wirklich nichts am Hut. Das war immer die Aufgabe seiner Frau gewesen.
"Meine geliebte Frau, ja du hättest dich über dieses Geschenk gefreut. Wenn ich damals rechtzeitig gehandelt hätte, dann wärest du und mein Sohn noch bei mir", dachte er verbittert und seine Backenmuskeln spannten sich über den Wangenknochen.
Selea besuchte ihren Onkel nun jeden Tag und sah nach der bepflanzten Tonschale. Prüfend steckte sie ihre Finger in die Erde. "Onkel, die Erde ist schon ganz trocken, wenn du dich nicht darum kümmerst, wird die Frucht verdorren. Glaubst du denn nicht an die heilende Kraft, die in ihr verborgen ist?"
Wohl vernahm Sergyl ihre Frage, doch er schüttelte den Kopf und ging wortlos aus dem Zimmer.
"Soll denn alles umsonst gewesen sein? War ich so einfältig? Nein, so schnell gebe ich nicht auf!", sprach das Mädchen zu sich selbst. "Ich werde mich nochmals auf die Reise begeben und den Feuervogel um Wasser für den Samen bitten. Sicherlich
belebt dieses Nass den Keim und die Pflanze kann endlich sprießen."
Doch soweit kam es nicht. Selea geriet in ein starkes Unwetter und stürzte schwer.
Als sie endlich gefunden wurde, lag sie schon in tiefer Bewusstlosigkeit.
Nachrichten verbreiten sich schnell und so wurde Sergyl Zeuge eines Gespräches von mehreren Dorffrauen:
"Das arme Ding, erst sorgt sie sich um ihren Onkel, der es ihr nicht einmal dankt und dann so etwas!" "Dabei ist sie doch noch hoch auf den Berg gestiegen und nur ganz knapp dem Fluch entronnen!" "Genau und das alles nur für diesen Mann mit einem Herz aus Stein!"
Betroffen verbarg er sich um im geeigneten Moment in seine Hütte zurückzukehren.
"War er wirklich der Grund für all dies Unglück? Erst seine Frau und sein Sohn und jetzt noch Selea?" Wütend schleuderte er seinen Gehstock gegen das Fenster. Dabei rutschte die Schale ab und zerbrach. Die trockene Erde verteilte sich auf dem Boden und gab den Samen frei.
"Nur wegen mir, alles nur wegen mir" und Sergyl glitt in die Knie und sein Gesicht berührte den kalten Steinboden. Dabei erblickte er den Samen und entdeckte an der Unterseite den winzigen, unscheinbaren Keimling. Mit zitternden Händen nahm er in zwischen die Finger. Ganz vorsichtig und behutsam hob er ihn in die Höhe und murmelte: " Für dich, liebe Selea, pflanze ich ihn wieder ein!"
Die Tage vergingen und Selea war immer noch nicht ansprechbar. Sergyl erkundigte sich täglich nach ihr und pflegte sein Geschenk, das ihm mit einem Mal so kostbar geworden war. Seine Hingabe beschleunigte das Wachstum der Pflanze und am Abend vor dem Mondfest öffnete sich die erste Knospe und eine herrliche blaue Blüte verströmte ihren Duft.
Sergyl, der am Tisch eingeschlafen war atmete ihn tief ein. Heilend durchdrang er jeden Körperteil des Mannes und schenkte ihm Frieden. Als er erwachte, durchzuckte ihn nur ein Gedanke: "Ich muss sofort zu Selea. Sicherlich kann diese magische Blume auch sie zurück ins Leben rufen." Und wirklich, als die Blütenblätter die Haut des Mädchens berührten, erwachte sie aus ihrem Schaf. Überglücklich schloss Sergyl seine Nichte in die Arme.
"Leben, das ist Liebe, die Verantwortung in sich trägt."