Die wertvolle Seite
Am Rande einer Lichtung stand ein großer und prächtiger Baum. Er stand schon sein ganzes Leben dort, solange man denken konnte.
Vor vielen Jahren hatte ein kleines Eichhörnchen überall auf der Lichtung sein Winterfutter versteckt und vergraben.
Eine Stelle hatte es vergessen, und genau an dieser Stelle stand jetzt dieser wundervolle Baum.
Zuerst wuchs aus dem Samenkorn im folgenden Frühling ein kleiner Keim. Und im Laufe vieler vieler Jahre wurde aus diesem kleinen Keim ein kleiner Baum.
Regen, Sonne und Wind ließen ihn wachsen und gedeihen und immer größer werden, so dass nach vielen Jahren ein wunderschöner und stattlicher Baum aus dem kleinen Keimling wurde.
Der junge Förster, der in dieser Gegend sein Revier hatte, hatte eine kleine Tochter. Schon als sie noch ein kleines Baby war, stand ihr Kinderwagen unter dem Baum, und der konnte dem kleinen Mädchen seinen Schatten spenden, wenn die Sonne hoch am Himmel stand.
Das kleine Mädchen, ihr Name war Sarah, wuchs heran und mit ihr auch der Baum. „Das ist mein Baum“, sagte sie immer ganz stolz.
Oft spielte sie in seinem Schatten mit ihren Puppen, und sie erzählte ihm alles, was ihr kleines Herz bewegte.
Sarah wurde immer größer und erwachsener, und mit ihr wuchs und gedieh auch der Baum, dem ihr Herz gehörte zu einer stattlichen Größe.
Manchmal schlang sie liebevoll ihre Arme um seinen Stamm und sie streichelte mit ihren Händen zärtlich über seine borkige Rinde.
Es vergingen viele Jahre, Sarah wuchs zu einer hübschen jungen Frau heran. Und der Baum, ihr Baum, war immer noch ihr guter, ja ihr bester Freund, und sooft sie Zeit hatte, machte sie einen Spaziergang und besuchte ihren grünen Freund. Sie erlebten gemeinsam viele Jahreszeiten und ihre Liebe zueinander war unerschütterlich.
Das Unglück geschah in einer Sommernacht. Nach einem heißen Tag zogen sich dunkle, bedrohliche Gewitterwolken am Himmel zusammen. Es grollte und donnerte heftig, und am Himmel waren grelle Blitze zu sehen.
Plötzlich traf einer dieser Blitze den stolzen Stamm des Baumes, und ein verheerender Feuersturm teilte den Baum genau in der Mitte durch. Ein brennender, unerträglicher Schmerz fuhr durch das Herz des Baumes. „Das ist das Ende, jetzt werde ich sterben“, dachte der Baum voller Verzweiflung.
Er spürte einen unsäglichen Schmerz in seiner linken Seite, und die Hitze des Blitzeinschlags ließ diese Seite vollständig verkohlen. Dicke Tränen aus Harz liefen dem verzweifelten Baum über seine noch lebendige rechte Seite, und sein Schmerz war kaum noch zu ertragen.
Am nächsten Tag machte der Förster seine Runde durch sein Revier, um die Schäden zu begutachten, die das schwere Gewitter angerichtet hatte.
Er kam auch zu dem Baum, den seine Tochter so sehr liebte. Traurig blieb er stehen und er streichelte dem Baum mitfühlend über seine erhaltene Seite: „Mein guter alter Freund, das tut mir so von Herzen leid was mit dir geschehen ist“.
Der Baum spürte seine Hand und er erkannte die Stimme von Sarahs Vater.
„Bitte, du musst mich jetzt erlösen, bitte fälle mich, denn diese Schmerzen kann ich nicht ertragen“, schrie es verzweifelt aus dem Inneren seines Baumherzens heraus.
Der Förster markierte den Baum mit einem gelben Aufkleber, der bedeutete, dass dieser Baum gefällt werden sollte.
Mit schweren Herzen dachte der Förster an seine Tochter, denn er wusste ja, wie sehr sie an diesem Baum hing.
Zuhause erzählte der Förster seiner Tochter von dem schrecklichen Unglück. Erschrocken riss Sarah ihre Augen auf.
„Meinem lieben Baum ist so etwas Schreckliches passiert?“ fragte sie weinend. „Nein Vater bitte, du darfst meinen Baum nicht fällen. Bitte, ich flehe dich an!“
Verzweifelt schlug sie ihre Hände vors Gesicht, sie konnte einfach nicht mehr aufhören zu weinen.
„Beruhige dich, mein Kind. Ich verspreche dir, dass ich mir deinen Baum noch einmal ganz genau ansehen werde. Wenn auch nur die allerkleinste Chance besteht, dass er überlebt, werde ich ihn nicht fällen lassen, das verspreche ich dir“. Sagte der Förster zu seiner Tochter.
Etwas getröstet schaute Sarah hoch, „ich danke dir Vater, ich werde auch gleich zu ihm gehen und nach sehen, wie es ihm geht“. Sie zog sich eine Jacke über und machte sich auf den Weg zu der Lichtung.
Als sie dort ankam und ihren halb verkohlten Freund erblickte, brach sie wieder in Tränen aus. Sie schlang die Arme um ihren Baum und weinte ganz Herz zerreißend.
„Was ist nur mit dir geschehen, mein lieber armer Freund?“ flüsterte sie und schmiegte ihr tränenüberströmtes Gesicht an seinen Stamm. „Ich weiß, dass du große Schmerzen haben musst mein geliebter Baum. Aber ich bitte dich von ganzem Herzen, gib nicht auf, du musst weiter leben!“
Sie streichelte liebevoll über seinen Stamm, „ich brauche dich doch und ich liebe dich so sehr. Zusammen werden wir das schaffen, du wirst es sehen.“
Von jetzt an besuchte Sarah ihren Baum an jedem Tag. Sie nahm ihn in ihre Arme und sie sprach mit ihm. „Du wirst das schaffen, du wirst es sehen. Ich werde dich halten und dich niemals alleine lassen.“
Der Herbst kam und auch der Winter. Jeden Tag besuchte Sarah ihren Freund, und ganz langsam und allmählich wurden seine unerträglichen Schmerzen in der verkohlten Seite etwas milder. Und der Baum schöpfte wieder Hoffnung, er wünschte sich wieder, dass sein Leben noch nicht vorbei sein sollte.
Dann kam der Frühling und die ersten wärmenden Sonnenstrahlen trafen auf den verletzten Baum. Seine gesunde Seite bekam wieder Knospen und ein wenig zaghafte Freude zog wieder in sein Baumherz ein, weil er sich auf seine frischen grünen Blätter freute.
Sarah war glücklich, weil es ihrem geliebten Freund wieder etwas besser ging. Liebevoll streichelte sie bei ihrem Besuch über seine verletzte Seite, „ich bin so froh, dass es dir wieder etwas besser geht, und dass mein Vater dich nicht fällen ließ.“ Liebevoll schmiegte sie ihr Gesicht an die Rinde ihres Baumes, als sie plötzlich entdeckte, dass auch an der verkohlten Seite zaghafte Knospen an den Ästen zu sehen waren.
Ganz aufgeregt erzählte Sarah ihren Vater von diesem Wunder: „Das kann ich gar nicht glauben, mein Kind“, sagte der Förster, „aber ich werde es mir morgen ansehen. Das wäre ja wirklich ein kleines Wunder.“
Und wirklich, Sarah hatte Recht, auch die verkohlte Seite des Baumes bekam Knospen. Sie wuchsen mit der Sonne und mit dem Regen und wurden immer größer. Sie wurden sogar viel größer als die Knospen auf der gesunden Seite des Baumes, und sie wurden größer als alle Knospen aller anderen Bäume.
Und als sie dann endlich aufbrachen, geschah wieder ein Wunder. Denn diese Blätter hatten eine wunderbare Farbe und ihre Form glich dem eines Herzens.
Staunend stand Sarah vor ihrem Freund und sie schlang ihre Arme um ihn und weinte vor lauter Glück. „Schau doch nur Vater, wie wunderschön diese Blätter sind, diese Blätter sind etwas ganz Besonderes, meinst du nicht auch?“
Der Förster schaute liebevoll auf seine Tochter, „ja mein Kind, diese Blätter sind wirklich ganz besonderes. Und nur die Liebe zu deinem Baum hat ihm diese Kraft gegeben. Du hast immer an ihn geglaubt und ihm geholfen weiter zu leben, und solche wunderschönen Blätter zu bekommen.“ Er nahm sein Kind in die Arme, er war sehr stolz auf sie.
Und wie unermesslich stolz war aber erst der Baum. Sein Baumherz war so froh und er konnte wieder ganz langsam damit beginnen, das schreckliche Unglück und die Schmerzen zu vergessen.
Seine wundersamen Blätter wurden riesengroß, und im Sonnenschein konnte man ihre wunderschöne und ausgefallene Farbe bewundern.
Sarah erzählte überall und jedem von diesem Wunder an ihrem geliebten Baum. Sie erzählte auch verzweifelten und traurigen Menschen davon. Und sie zeigte ihnen diese wunderschönen und besonderen Blätter.
Diese verkohlte Seite war so voller Liebe, voller Hoffnung und Zuversicht, und so machten diese Blätter und die Geschichte wie sie entstanden waren, vielen Menschen wieder Mut.
Sie erkannten, dass man auch nach großem Schmerz und Verzweiflung, wieder glücklich werden konnte.